SPRECH-Nachrichten, 1. Jänner 2018

Leitartikel: „Einszweidrei im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit… (Wilhelm Busch)“

Prosit Neujahr, liebe Leserinnen und Leser! Es freut mich sehr, auch im Neuen Jahr wieder mit Ihnen Zeit verbringen und Gedanken spinnen zu dürfen. Haben Sie angenehme Feiertage verbracht? Schnell waren sie wieder vorüber, nicht wahr? Und im Handumdrehen wird der Jänner zu Ende gehen, der Winter, Ostern …

Die Zeit ist uns wertvoll – ja, mit zunehmendem Lebensalter immer wertvoller – und es ist uns allen ein Anliegen, sie sinnvoll zu nützen. Wenn wir zurückschauen, stellen wir oft fest, dass uns das im letzten Jahr nicht immer zur Zufriedenheit geglückt ist. Aber der König („Altes Jahr“) ist tot, es lebe der König („Neues Jahr“)! Und deshalb fassen wir flugs fürs Neue Jahr gute Vorsätze: mehr für die Fitness tun, klareres Zeitmanagement im Beruf, mehr mit der Familie unternehmen, etc., etc. Wir legen fest, was wir in welcher Häufigkeit zu tun gedenken.

Aber wie alles, was wir bewerten, ist auch das Urteil über die Qualität der verbrachten Zeit sehr relativ. Im Nachhinein haben wir immer das Gefühl für bestimmte Belange zu wenig und zu wenig gut gemacht zu haben. Unser Urteil ist selektiv und blendet viel aus. Das ist bei der Bewertung der Vergangenheit ganz genau so wie bei der antizipatorischen Bewertung der Zukunft – also z.B. bei den Vorsätzen für das neue Jahr. Wir vergessen einige Faktoren, überbewerten manche andere, kalkulieren die Vorhaben unserer Mitmenschen nicht ein und schließlich kann – wie wir aus Erfahrung alle wissen – die Unberechenbarkeit des Lebens unser ganzes Zeitbudget ziemlich gnadenlos und gründlich über den Haufen werfen. Ich verleihe hier meiner unumwundenen Abneigung gegen Zielvereinbarungen und persönliche Zielvorgaben Ausdruck. Ja, wir brauchen Visionen und es ist wunderbar, einem persönlichen Ideal entgegenzustreben. Alles an konkrete Ziele Gebundene beinhaltet aber zum einen die Möglichkeit des Scheiterns, und lässt uns zum anderen vielleicht weit bessere Optionen übersehen.

Seneca (1 bis 65 n. Chr.) hat das ganze Eilen und Streben ganz nüchtern auf den Punkt gebracht: „Niemand bringt die verlorene Jahre wieder, niemand gibt dich dir selbst zurück. Du bist geschäftig, dein Leben eilt dahin, inzwischen wird der Tod erscheinen, für den du, ob du willst oder nicht, Zeit haben musst… Die meisten richten ihr Leben auf Kosten ihres Lebens ein und planen für die Zukunft. In diesem Hinausschieben liegt der Fehler: es entreißt dir die Gegenwart. Das größte Hindernis glücklichen Lebens ist die Erwartung, die vom Morgen abhängt. Du verlierst den heutigen Tag; was in der Hand des Schicksals liegt, suchst du zu ordnen; was in der deinigen liegt, lässt du fahren.“

Statt den Augenblick achtsam zu leben, hängen wir Vergangenem nach oder planen und erhoffen Künftiges. Das geschieht allenthalben. Wir verpassen Augenblick um Augenblick, weil wir dem Geschehenen nachsinnen oder dem Möglichen entgegenstreben.

Warum ich als Kommunikations-Trainerin darüber sinniere? Weil auch unser Sprechverhalten oft Ausdruck eben jener Haltung ist:

  • Wir sprechen dann zu schnell oder pausenlose und in langen Sätzen: weil die Gedanken schon vorausgeeilt sind und der Redner hinterher wuseln muss. Wir werden schwer verständlich.
  • Wenn aber Bild- und Tonspur nicht mehr synchron laufen, leidet unsere Glaubwürdigkeit.
  • Wir neigen zu schlechtem Zuhören, weil so vieles sich ins Bewusstsein drängt;
  • zu fehlender Empathie und geringer Wertschätzung des Gesprächsanliegens der anderen, weil im eigenen multidimensionalen, egozentrierten Denken und Fühlen dafür keine Ressourcen mehr zur Verfügung stehen.
  • Und aus demselben Grund auch häufig: zu fehlender Denkdisziplin beim Sprechen.

Mein einziger Neujahrsvorsatz ist demzufolge also vermehrte Achtsamkeit: für den Augenblick, für mich, für den anderen, für meine Umgebung, für Ideen und Chancen die dem Jetzt entspringen. Mein Neujahrsvorsatz ist es, öfter dem Busch-Zitat zu trotzen und stehenzubleiben; den Augenblick bewusst und genussvoll zu begehen, ohne zu bewerten und ohne auf den vergangenen oder den künftigen zu schielen.

Sprechtechnik-Tipp zum Leitartikel

Die Entdeckung der Langsamkeit, die Kraft der Pausen

Jede Pause beim Sprechen ist wie ein Kamera-Schwenk beim Film; sie ist der Übergang von einem Sprachbild zum nächsten. Probieren Sie bei den folgenden Gedanken zum Neujahr erst dann die jeweiligen Worte auszusprechen, wenn die Bilder im Kopf schon entstanden sind. Simultan mit dem Bild formt sich in diesen „Gedanken-Pausen“ die entsprechende Mimik/Gestik, die Worte folgen ihnen einen Augenblick später.

Und nun wollen wir glauben an ein langes Jahr, das uns gegeben ist, neu, unberührt, voll nie gewesener Dinge, voll nie getaner Arbeit, voll Aufgabe, Anspruch und Zumutung; und wollen sehen, daß wirs nehmen lernen, ohne allzuviel fallen zu lassen von dem, was es zu vergeben hat, an die, die Notwendiges, Ernstes und Großes von ihm verlangen … Guten Neujahrsmorgen …

Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

Herr, setze dem Überfluss Grenzen, und lasse die Grenzen überflüssig werden. Lasse die Leute kein falsches Geld machen aber auch das Geld keine falschen Leute. Nimm den Ehefrauen das letzte Wort und erinnere die Ehemänner an ihr erstes. Schenke unseren Freunden mehr Wahrheit und der Wahrheit mehr Freunde. Gib den Regierenden ein besseres Deutsch und den Deutschen eine bessere Regierung. Herr, sorge dafür, dass wir alle in den Himmel kommen. Aber nicht sofort.

Neujahrsgebet des Pfarrers von St. Lamberti, Münster (1883)

Sprechtrainerin Petra Maria Berger: "Darüber freuen wir uns." (Foto: www.weinfranz.at)

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