SPRECH-Nachrichten, 16. Dez. 2022

Leitartikel: „Versteh’ mich nicht so schnell!1

Missverständnisse und daraus resultierende Konflikte entstehen aufgrund der leidigen Tatsache, dass wir einander nicht automatisch verstehen. Unser Sprechverhalten ist höchst individuell und noch viel komplizierter ist das Verstehen.

Wir hören selektiv und verstehen projektiv.

Gesetzt den seltenen Fall ich höre akustisch alles, was mein Gegenüber sagt, muss mein Gehirn danach erst abgleichen, was es kognitiv versteht. Es sortiert gleich einmal aus, was seiner Meinung nach nicht hörenswert ist und gleicht dann den Rest mit seiner Erfahrungswelt ab, also deutet das Gehörte in sein Wissen hinein: Wir hören selektiv und verstehen projektiv.

Stellen Sie sich vor, wie unterschiedlich alle einzelnen Gehirne verstehen! Stellen Sie sich einen Saal von Gehirnen vor und dieser Saal von Gehirnen macht aus jedem Vortrag einen Saal voll unterschiedlicher Versionen desselben.

Und jetzt stellen Sie sich noch bitte vor, wie unterschiedlich wir ein und dasselbe Ereignis darstellen, wie unterschiedlich wir uns ausdrücken, wie unterschiedlich wir verbal auf etwas reagieren.

Sprechen und verstehen – es könnte komplizierter nicht sein.

Wir Menschen driften als Menge von Individuen durch den Alltag – jeder ist in seinem Kommunikationsverhalten höchst individuell festgelegt. Alles was wir erlebt haben, hat uns geprägt – an jedem Tag, jeder Stunde unseres Lebens. Wir haben in jeder Situation gelernt, wann wir schweigen oder lügen sollten, wann wir gut mit Schreien, Schmeicheln oder Dozieren durchkommen, wann wir mit Zynismus oder mit Dominanz punkten oder wann wir besser Haken schlagen. Das alles tun wir nicht, weil es in jener Situation wirklich ratsam ist, sondern weil unsere persönliche Ausdruckspalette und unser individueller Erfahrungsschatz uns das vorgibt. Je öfter wir eine (Re-)Aktion wählen, umso mehr formt sie uns. Wir sind zu einem ganz einzigartigen Knäuel an Handlungsmustern geworden.

Und jetzt treffen wir auf andere dieser Knäuel. Einige von ihnen holpern neben, manche auch mit uns durchs Leben. Wir stoßen aufeinander und dann schauen wir einander an. Und wir verstehen nicht, warum sie dieses oder jenes sagen! Warum sagen/machen sie es nicht so, wie wir es logisch fänden? Wieso verstehen sie nicht, dass es ein (für uns) Richtig und ein (für uns) Falsch gibt? … Warum nur? … Weil sie es nicht verstehen können! „Aber warum sagt er nicht einfach …?“ – Er kann es nicht! Es ist ihm jetzt und in dieser Art einfach nicht möglich! Jeder Mensch – jedes Knäuel - ist anders gewickelt. Und ob und wie er sich ent-wickelt, ist ganz alleine sein Weg.

Niemals können wir das Handlungs-Knäuel der anderen mit unserer Knäuel-Realität verstehen. Erst wenn wir die Einzigartigkeit einer Persönlichkeit annehmen, beginnt der wahre Dialog der auf echter Wertschätzung basiert.  Wir können aufmerksam zuhören und wertfrei nachvollziehen. Wir können die anderen Persönlichkeiten annehmen und respektieren. Denn jede kann nur so handeln wie sie eben handeln kann.

Deshalb müssen wir, wenn wir gedeihlich miteinander leben wollen, unsere Sichtweisen ständig abgleichen und möglichst genau und klar ausdrücken, was wir sagen wollen. Wenn es Missverständnisse gibt, gibt es nur zwei Lösungen: das Herz ausschütten und sich offenbaren oder den anderen zum Offenbaren bewegen. Wenn wir lernen unsere Ansinnen mehr und mehr in klare Botschaften zu kleiden, stärkt das unsere Überzeugungsfähigkeit und macht uns zufriedener und krisensicherer.

Themenwechsel, Lügen, Verheimlichen, Bewerten oder Einigeln schaffen sehr schnell Distanz und Entfremdung.

Auf Schweigen folgen Spekulationen.

Der Konflikt beginnt zu Schwelen.

Durchs Reden kommen die Leut’ zusammen!

Auch wenn es oft zu Verständnisschwierigkeiten kommt, wir haben – trotz aller erwähnten Widrigkeiten - keine andere Möglichkeit als das Gespräch.

– Also immer und immer wieder: Hör mir zu! Und: Sprich mit mir!

Sprech-Übung

Versteh‘ mich nicht so schnell und die Entdeckung der Langsamkeit durch Bilder im Kopf: Lesen Sie aufmerksam und laut ein Gedicht. Lassen Sie die Bilder in Ihrem Kopf vor den Worten entstehen. Erst dann sprechen Sie das Wort aus! Bild – Wort – Bild – Wort … So wird aus dem was Sie sagen ein interessanter Film und eine verstehbare Geschichte, die man sich merken wird.

Gedichtesammlung: https://www.gedichte-lyrik-online.de/

 


1 „Versteh mich nicht so schnell“ ist geliehen und eigentlich ein Buchtitel zum Thema „Gedichte lesen mit Kindern“ von Ute Andresen.

Sprechtrainerin Petra Maria Berger: "Darüber freuen wir uns." (Foto: www.weinfranz.at)

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